Im jüdischen Gesetz gibt es das Prinzip des Ausgleichs. Im Buch Levitikus heißt es (24,17f). „Wer einen Menschen erschlägt, hat den Tod verdient. Wer ein Stück Vieh erschlägt, muss es ersetzen: Leben für Leben.“ Dieses Prinzip hebt Jesus auf, indem er auf die Liebe und die Barmherzigkeit des Vaters verweist. „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Jesus setzt diesem Prinzip und diesem Gedanken der Gerechtigkeit einen anderen Gedanken der Gerechtigkeit entgegen. Einen Gedanken der Gerechtigkeit, welcher der Logik entspricht, die er aus seiner Beziehung zu Gott, seinem Vater, ableitet. Es ist der Gedanke der vergebenden Liebe, es ist der Gedanke der barmherzigen Gerechtigkeit. Es ist der Gedanke der Feindesliebe. Auch wir kennen Bilder von Gerechtigkeit, die dem Gerechtigkeitsverständnis unseres Staates oft widerstreiten. War dies oder jenes Urteil in unseren Augen gerecht?
Unser Verständnis von Gerechtigkeit ist oft von subjektiven, spontanen Gefühlen geleitet. Somit kann unser Urteil schnell ein Urteil der Ungerechtigkeit werden, da es meist von unreflektierten und starken Emotionen geleitet wird. Der Staat gut tut daran, Gerechtigkeit nicht von subjektiven Gefühlen abzuleiten. Lynchjustiz, willkürliche Urteile wären die Folge. In den Nachrichten können wir von solchen Urteilen in manchen Ländern der Welt hören. Es sind Umgangsformen, die auch unserer Seele schaden würden, da wir sie aus der Distanz und aus der Reflexion betrachtet, meist doch hätten anders entscheiden wollen.
Jesus schafft es immer wieder, sich von vorgegebenen Urteilsmustern, von vorgegebenen Normen, vielleicht auch von subjektiven Gefühlen, zu distanzieren, sie neu zu interpretieren, ja, sie einer neuen Beurteilung der Gerechtigkeit zu unterziehen. Jesus schafft es immer wieder, Annahmen, die als normal und gerecht gelten, zu hinterfragen, sie neu zu interpretieren und neue Normen zu definieren. Das bedarf der Fähigkeit der Offenheit, das bedarf der Fähigkeit des Mutes, das bedarf vor allem der Fähigkeit des kritischen Denkens und des Mutes, die bestehenden Dinge, Normen, Gegebenheiten zu hinterfragen, und es bedarf eines Kompasses, diese neu zu ordnen und zu interpretieren. Jesus gibt uns ein Beispiel dafür, wie wir mit gegebenem, gelerntem, automatisiertem Verhalten, wie wir mit unseren subjektiven Gefühlen und Emotionen umgehen können und umgehen sollen.
Viktor Frankl sagt (ich hab es schon öfter zitiert), „wir müssen uns von uns selbst nicht alles gefallen lassen“. Wir müssen uns unsere Meinung, unsere Prägung nicht von uns „gefallen lassen“. Wir müssen uns das unreflektierte Diktat unserer Gefühle und Emotionen nicht gefallen lassen. Wir können in kritische Distanz dazu gehen und uns fragen: Möchte ich so reagieren oder gibt es für mich auch eine andere Möglichkeit, mich zu verhalten? Gibt es für mich auch eine andere Möglichkeit, mit einer Situation umzugehen? Das erfordert von uns eine Anstrengung. Aber diese sind wir uns und dem Leben schuldig, wollen wir nicht fremdbestimmt, gewohnheitsmäßig und unreflektiert unser Leben so leben, wie wir es vielleicht immer schon gelebt haben, weil wir das so gelernt haben.
In die Schule Jesu zu gehen, bedeutet nicht nur, jetzt und hier seine neuen Worte zu hören, vielleicht zu bejahen und mitzunehmen zu wollen. Es bedeute vor allem, selbstständig denken, urteilen und handeln zu lernen. Es beutet meine Umgangsmuster zu erkennen, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren, um zu einer neuen Art des Handelns zu kommen. Die Welt mit ihren Spielregeln, unsere Prägung und Erziehung sind uns oft kein brauchbares Vorbild für den konkreten Umgang.
In unserem Kontext schauen wir auf Jesus, schauen wir auf sein Verständnis und sein Verhältnis zu Gott, aus dem er sein kritisches Denken ableitet, definiert, verkündet und lebt. Er macht seine Gotteserfahrung zu seinem Bezugspunkt. Und Gotteserfahrung und Selbsterfahrung gehören bei Jesus immer zusammen. Das hören wir auch in seiner heutigen Rede. „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen!“
Hier wird unsere Sehnsucht nach dem angesprochen, wie ich behandelt werden möchte. Ich mit meinen Gefühlen, ich mit meinen Bedürfnissen, ich mit meiner Empfindsamkeit bin angesprochen. Sie soll auch der Maßstab meines Handelns sein. So wie ich behandelt werden möchte, soll ich auch andere behandeln. Das kehrt vieles automatisch um, wenn ich ein gutes Gefühl für mich selbst und für meine Bedürfnisse habe. Das kehrt vieles um von dem, was ich vielleicht subjektiv empfinde; das kehrt vieles von dem um, was ich vielleicht subjektiv und spontan entscheiden würde.
Ich und mein Empfinden sind der Maßstab für mein Handeln. Ich und mein Empfinden sind der Spiegel Gottes in der Welt, da wir Ebenbilder Gottes sind. Das ist die Herangehensweise und die Sichtweise Jesu. Verstehen wir jetzt worum es geht?
„Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden.“
Sascha Heinze SAC