Wir alle sind in irgendeiner Weise bewegt von den Ereignissen, die wir aus der Ukraine und aus Russland wahrnehmen müssen. Gefühle, Ängste, Erinnerungen tauchen auf, und wir sind gefordert, mit ihnen umzugehen. Krieg in Europa, Krieg vor unserer Haustüre. Wir sind aufgefordert wahrzunehmen, was uns beschäftigt. Was uns vielleicht ängstigt, was uns umtreibt. Wie gehen wir damit um? Wo finden wir Antworten? Wie gehen wir mit den immer wieder neuen Nachrichten und Bildern um? Wir versuchen zu verstehen, warum der Präsident Russlands handelt, wie er handelt.
In diese Situation hinein hören wir die Mahnung Jesu:
„Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Bruder, lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen!, während du selbst den Balken in deinem Auge nicht siehst? Du Heuchler!“
Das ist die Antwort Jesu auf die Selbstgerechten, auf die, welche sich in der Sonne ihrer vermeintlichen Religiosität und Wahrheit sehen, sich selbst aber dabei übersehen. Spirituelles Wachstum und eigene Lebenskunst hat zuallererst immer auch mit eigener Schattenarbeit zu tun. Schattenarbeit bedeutet, bei mir selber sehen zu lernen, wo die Balken vor meinem Auge sind, um im Bild Jesu zu bleiben. „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen,
den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“
Schattenarbeit bedeutet, das sehen zu lernen, was in meinem Schatten liegt. Das sehen zu lernen, was ich nicht sehe, weil es mir verborgen ist, weil es eben im Schatten liegt. Um den Schatten aufzudecken, muss man sich selbstkritisch betrachten und sich mit den problematischen Anteilen der eigenen Persönlichkeit auseinandersetzen. Das können Vermeidungsstrategien, Abwehrmechanismen, unterdrückte Gefühle oder innere Gegenspieler sein. Ihnen dürfen wir uns in der Schattenarbeit zuwenden, sie sehen und sie kennenlernen und wenn möglich uns mit ihnen versöhnen. Wenn uns das immer wieder gelingt, wenn es uns im Bewusstsein ist, dass das einer der Wege ist, die zum spirituellen Leben dazugehören, dann sind wir als Jüngerinnen und Jünger gut unterwegs.
Und dann kann es auch passieren, dass wir, ohne dass wir es gleich merken, uns selber zu Meisterinnen und Meistern entwickeln.
Wenn das nicht gelingt, wenn wir unsere Schatten nicht sehen und bearbeiten können, dann können Dinge geschehen, wie wir sie gerade in der Ukraine und in Russland beobachten müssen. Deswegen ist Schattenarbeit so wichtig, deswegen ist es so wichtig, das wir zuerst den Balken im eigenen Auge sehen, und uns dann vielleicht vorsichtig trauen können, den Splitter im Auge der Schwester, des Bruders zu sehen, dies anzusprechen und vielleicht die Erlaubnis erhalten, ihn herausziehen zu dürfen oder den anderen/die andere dabei unterstützen zu dürfen.
Wenn uns diese Sensibilität gelingt, wenn uns diese Weise der Lebenskunst gelingt, dann kann jede und jeder von uns eine Meisterin oder ein Meister ihrer und seiner eignen Lebenskunst werden. „Ein Jünger steht nicht über dem Meister; jeder aber, der alles gelernt hat, wird wie sein Meister sein.“
Wir dürfen in der Schule Jesu, in der Schule spiritueller Meisterinnen und Meister lernen, wie das Leben geht. Literatur darüber gibt es regaleweise, und sie wird von interessierten Menschen auch gelesen. Begleiterinnen und Begleiter auf dem Weg der spirituellen und menschlichen Entwicklung finden wir heute ebenso.
Gehen wir in die Schule Jesu und in die Schule der Spiritualität, damit wir in Situationen wie diesen Möglichkeiten und Wege haben, mit den Phänomenen, die sich uns zeigen umzugehen. „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders, deiner Schwester herauszuziehen“.
Sascha Heinze SAC