Während der Corona-Pandemie hatten wir den Ambo aus unserer Kirche entfernt, um ein Feiern mit den gebotenen größeren Abständen zu ermöglichen. Nun war es an der Zeit, uns Gedanken über eine Rückgestaltung oder Neugestaltung der Kapelle zu machen. In einem gemeinschaftlichen Prozess wollen wir Möglichkeiten ausloten, wie die Franziskuskapelle in Zukunft gestaltet sein könnte.
Wer in diesen Tagen die Kapelle vom Haus der Stille betritt, den empfängt ein umgestalteter Raum. Der oktogonale Bau hatte bisher im Inneren eine Ausrichtung nach Osten. Die Blickrichtung war durch den durchlässigen offenen Raum in diese Richtung und das dort hängende Kreuz von San Damiano quasi vorgegeben. Diese Ausrichtung hat sich nun verändert – die Blickrichtung nach vorne hin wird nun zu einer allen gemeinsamen Mitte ins Zentrum des Raumes gelenkt. Diese „leere Mitte“ ist vielleicht am auffälligsten. Sie tut sich wie von selbst auf, betritt man den Raum über die Treppen auf der linken oder der rechen Seite nach dem Eintreten in die Kapelle. Die „leere Mitte“ ist nun deutlicher ins Zentrum gerückt, eine Mitte, die bisher schon angedeutet war. Nun ist die Sitzordnung auf sie hin ausgerichtet.
Wir haben in einem Suchprozess zur Neugestaltung unserer Kapelle diese neu adjustiert. In der nächsten Zeit könnte es nun darum gehen, ein Raumempfinden zu entwickeln und der Veränderung nachzuspüren, sich von der Mitte ansprechen zu lassen, zu schauen und zu lauschen, was diese Art der Gestaltung mitteilt, in uns auslöst, uns fragen, zweifeln oder antworten lässt. Vielleicht ist es für manche eine gewisse Provokation, in einer „katholischen Kapelle“ von den traditionellen Orten der Aufmerksamkeit und der Hinwendung abzuweichen. Kreuz, Tabernakel, Buch, Altar und Ambo sind nunmehr integrierte Orte eines großen Ganzen. Sie sind Zeichen für die Gegenwart Gottes oder Orte für die Feier der Liturgie innerhalb des Raumes. Sie stehen aber nicht im Zentrum. Dieses bildet nun die „leere Mitte“, absichtlich die „leere Mitte“, um die sich Menschen einfinden, die in ihrer Versammlung Christus repräsentieren.
Die leere Mitte der Kapelle öffnet einen unendlichen Raum und steht für die Unverfügbarkeit Gottes, des Menschen, der Welt, des ganzen Kosmos. Die leere Mitte steht für die Unverfügbarkeit des eigenen Lebens, der eigenen Mitte, des eigenen Menschseins, eine Unverfügbarkeit, die Freiheit und Offenheit schenkt. Die eigene Leere kann gefüllt werden. Ich darf mich erfüllen lassen von meinem Leben mit seinen Werten, von meinen Gottesbildern, von meiner Christusbeziehung und meiner Christuswirklichkeit. Die leere Mitte des Raumes symbolisiert eine Leere, die ich fühlen kann, manchmal schmerzlich, manchmal wohltuend, manchmal einengend, manchmal weitend. Die leere Mitte steht für die Offenheit der Begegnung mit Gott, mit dem Göttlichen, mit mir, mit den anderen, mit der Welt, mit dem Kosmos. Der Jesuit Friedhelm Mennekes nennt es die „Sakralität der Leere“.
Auch in anderen Spiritualitätsformen ist die leere Mitte von großer Bedeutung, da sie für die Mitte der Person steht, für Offenheit und die Begegnung mit Gott und mit dem Göttlichen. In der Anfangszeit des Hauses der Stille hieß der es tragende Verein „Leben aus der Mitte“. Dieses Leben aus der Mitte soll durch die leere Mitte verdeutlicht werden, es soll die leere Mitte möglich machen.
Man könnte fragen: Warum eine leere Mitte, wo doch die Botschaft der Bibel die eines “personalen“ Gottes ist und nicht die der Leere oder des Unnennbaren? Gott kann in verschiedenen Weisen erfahren werden – als Du, als Es, als Ich. (Darüber habe ich schon einmal in einem Artikel über die drei Gesichter Gottes nachgedacht. Hier die ersten Zeilen aus dem Text, der unter folgendem Link zu finden ist. https://www.haus-der-stille.at/impulse/die-drei-gesichter-gottes/ )
„Der jüdischer Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) benennt in einem 1957 formulierten Nachwort zu seinem berühmten Buch „Ich und Du“ drei Möglichkeiten, wie Gott erfahren und verstanden werden kann. Er spricht von „Naturhaftigkeit“, die sich in allem darstellt (drittes Gesicht), von „Personhaftigkeit“ (zweites Gesicht) und von „Geisthaftigkeit“ als Ursprung von allem (erstes Gesicht).“
Diese Absicht, den verschiedenen „Gesichtern Gottes“ Raum, Ausdruck und Erfahrbarkeit zu verleihen, liegt der Umgestaltung zugrunde, damit alle Menschen Gott als ein Du anbeten, als die sie umgebende Wirklichkeit glauben, als in sich lebend erfahren können. Die leere Mitte ist Zeichen der Unverfügbarkeit, kann aber auch der Ort der Erfahrung Gottes werden, Ort der Selbsterfahrung. Die Leere deutet an, wo Gott, wo das Leben zu finden ist. Die Leere kann sich mit dem Leben Gottes, mit meinem Leben füllen. Sie kann sich wieder leeren, kann in diesem Sinne „keusch“ werden, um neu Empfangende zu werden.
Seit ein paar Monaten haben wir auch die Symbole der Religionen des Friedensplatzes in den Raum unserer Kapelle geholt. So wird sie ein Raum des Gebetes für alle Menschen; auch das darf und will unsere Kapelle sein.
Kreuz, Tabernakel, Bibel, Ikonen, Altar und Ambo – sie rahmen den Raum ein. Sie befinden sich mitten im Kreis der Menschen, sie halten sich im Hintergrund, aber sie sind da, als „christliche Repräsentanten“ der Gegenwart Gottes, des Gottes Jesu Christi und von Jesus Christus selbst. Gott jedoch ist größer als unsere Ausdrucksformen und als unsere Gottesbilder. Gott ist weiter und bunter als die Bilder, die wir von ihm in unsere Räume und in unsere Seele stellen können.
Ich lade alle ein, sich auf diesen neuen Raum einzulassen, sich von ihm irritieren und inspirieren zu lassen, auszuhalten, dass er uns vielleicht zunächst fremd sein mag. Lassen wir uns auf den Raum ein, auf die leere Mitte, auf die „christlichen Repräsentanten“ im Hintergrund. Nur die unverfügbare leere Mitte soll leer bleiben und Symbol dafür werden, dass Gott sich ereignet. Er kann wahrgenommen und erfahren werden, wenn unsere Leere Ihm Raum gibt.
Sascha Heinze SAC
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