Bürgerdialoge, Synoden, Konferenzen, Räte, Ausschüsse, Gremien. Sie alle tagen in Politik, Kirche und Gesellschaft, um sich mit den Fragen der Zeit, mit verlorengegangenem Vertrauen, mit gesellschaftlichen Krisen, mit Demokratieverlust, mit schwindender Kirchenbindung, mit den Auswirkungen globaler Krisen zu beschäftigen. Viele Papiere entstehen, Konzepte werden erdacht und geschrieben, und doch schreiten manche Entwicklungen der Entfremdung immer weiter voran. Entfremdung von der Fähigkeit zur Diskussion, Entfremdung in dem Willen zum Dialog, Entfremdung in dem Willen zum Hören, Sehen und Aushalten von Meinungen. Entfremdung führt immer mehr zum Unverständnis dessen was ist, was sich zeigt, so dass eine Auseinandersetzung oft fast nicht mehr möglich ist.
Entfremdung entbindet von Zusammenhalt, Entfremdung entbindet von gewohnten Bildern, Entfremdung entbindet von Gewohntem. Neues ist oft noch nicht in Sicht. Altes trägt und hält nicht mehr. Altes nicht im Sinne einer Wertung, sondern einer Veränderung. Wie reagieren wir in Kirche, Gesellschaft, Gemeinschaft und Politik auf solche Entwicklungen? Oft mit eigenem Unverständnis, mit Ohnmacht, mit Verurteilungen und mit Schuldzuweisungen. Menschen wenden sich ab. Wer wendet sich ihnen zu? Populisten, Vereinfacher, Sektierer, Heilsbringer, Ideologien haben hier oft leichtes Spiel, weil sie vermeintliche Wahrheiten, weil sie vermeintliche Klarheiten versprechen. „Was ist Wahrheit?“, hören wir Pontius Pilatus in der Szene der Befragung Jesu fragen. Was ist Wahrheit? Wie finde ich Antworten? Wohin gehe ich mit meinen Fragen?
Hinein in diese Wirklichkeit vieler Menschen in unseren Gesellschaften, in den Kirchen und Gemeinschaften poppt heute das Pfingstfest auf. „Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch!“ In den Raum der Furcht, in den Raum der Verschlossenheit, tritt einer und sagt: „Friede sei mit euch!“ Ist das zynisch? Nimmt er die Sorgen und Ängste der Menschen nicht ernst? „Friede sei mit euch!“ Er hebt aber gleich jeden zynischen Verdacht auf, indem er ihnen seine Wunden zeigt. „Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen.“
Dialog mit Fragenden, mit Suchenden, mit Entfremdeten kann gelingen, wenn wir bereit sind, einander unsere Wunden zu zeigen. Wunden sind Zeugen der Wahrheit eines gelebten Lebens, gezeigte Wunden stehen gegen jede Besserwisserei, gezeigte und geteilte Wunden bringen uns auf Augenhöhe, bringen uns auf Ohrenhöhe. „Wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden“, heißt es am Ende der Lesung aus der Apostelgeschichte, die uns das Pfingstereignis erzählt. „Wir hören sie in unseren Sprachen Gottes große Taten verkünden.“
Das Zeigen der Wunden, das Zeigen der Fragen, das Zeigen des eigenen gesuchten, erlittenen Weges, kann die Möglichkeit zum Dialog öffnen. Kann die Demut beherbergen, dem und der anderen mit offenen Ohren, offenen Augen, offenem Herzen und offenen Antworten zu begegnen. Diese Art des Miteinander-Gehens, Zeigens, Offenseins kann uns, kann der Kirche, kann der Gesellschaft helfen, ehrlich und ringend und suchend Wege in die Zukunft zu gehen.
Pfingsten gibt uns ein Beispiel dafür, wie der Geist wirken kann, und auch heute wirken könnte. „Jesus kam, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist!“ Dieser heilige Geist, der uns gegeben ist, kann auch in unserem Leben Heil, Versöhnung und Verstehen hervorbringen. Öffnen wir uns ihm neu, heute an diesem Pfingstfest. Dann können aus mancher Entfremdung vielleicht neues Vertrauen und neue Möglichkeiten eines Lebens in Vielfalt wachsen. Einer Vielfalt, welche uns die Möglichkeiten und die Fülle des Lebens neu zeigen wird.
Sascha Heinze SAC